Shop-Innovation: Immer an die Kunden denken!

Erfreulicherweise ist die Diskussion rund um die Frage, wie es derzeit mit Innovationen im E-Commerce allgemein, aber vor allem im Hinblick auf Shopsystem-Hersteller bestellt ist, auch am Wochenende munter weitergegangen. Björn Schotte hat einen lesenswerten Appell verfasst, der sich hinsichtlich Innovationsbereitschaft neben den erwähnten Softwarelieferanten auch die Händler vorknüpft. An dieser Stelle möchte ich nun die Diskussion um einige wichtige Punkte ergänzen.

Software und Standards

Allgemein gesprochen gibt es bei jeder Software neben der eigentlichen technischen Umsetzung auch immer eine konzeptionelle und normative Ebene. Egal, wie es beispielsweise bei Textverarbeitungsprogrammen unter der Haube aussieht, wir alle klicken auf ein fett dargestelltes „B“ um einen Text entsprechend zu formatieren; das gilt für Word genau wie für OpenOffice und ist auch von dem WordPress-WYSIWYG-Editor geerbt worden, in dem ich gerade diesen Beitrag schreiben. Schreibende können sich auf Schreiben konzentrieren und Bedienelemente intuitiv verwenden.

Analog dazu sind für einen Online-Händler in einem Shopsystem bereits Funktionen enthalten und Prozesse (vor)modelliert. Im Backend findet er eine Logik zum Anlegen von Artikeln und Kategorien und hat die Möglichkeit, sich eingegangene Bestellungen anzusehen. Außerdem ist wichtig, dass hinsichtlich des Aufbaus und der Funktionalität des Frontends das Rad nicht mehr neu erfunden werden muss. Nach der Installation eines Standard-Shopsystems stehen unter anderem Kategorie- und Produktseiten sowie ein Checkout-Prozess zur Verfügung. Dem Händler bietet sich somit ein E-Commerce-Basisinstrumentarium, das wenig bis keine eigene konzeptionelle Eigenleistung mehr erfordert, ganz im Gegenteil: Verlässt er diesen Standard, läuft er Gefahr, seine Kundschaft zu verwirren. Denn auch der Kunde – auf den wir weiter unten noch im Detail eingehen möchten – hat in den letzten Jahren mehr oder weniger bewusst gelernt, wie ein Onlineshop aussehen „muss“ und fordert einen entsprechenden Aufbau ein. (So wird es zumindest wahrgenommen.)

Dieser Standard hat für den Händler noch einen weiteren Vorteil. Nutzt er die Software im Rahmen einer kommerziellen Lizenz, erhält er vom Anbieter entsprechende Garantien für das Funktionieren derselben bzw. hat Anspruch auf Support. Wenn es hart auf hart kommt, kann ein Anbieter auch verklagt werden – sollte beispielsweise die Fehlfunktion der Software zu massiven Beeinträchtigungen des Geschäfts führen. Zudem hat sich rund um den Lieferanten der Kern-Software typischerweise ein Ökosystem flankierender Produkte und Dienstleistungen wie Payment und Logistik entwickelt und es existiert ein beruhigender Katalog an best practices. Das vermittelt (Investitions-)sicherheit.

Heraus aus der Komfortzone?

Es gibt jedoch eine Kehrseite der Medaille. Wie auch die aktuelle Diskussion dazu zeigt, liegt die Gefahr solcher standardisierten Systeme darin, sich selbst nicht mehr neu erfinden bzw. den aktuellen Entwicklungen nicht mehr schnell genug Rechnung tragen zu können. Software-Monolithen, die gerade noch ein Set beruhigender Standards und garantierter Funktionalität geliefert haben, wird gerade das monolithische zum Verhängnis. Wer einmal als Dienstleister erlebt hat, welche mittlere Panik man bei einem Händler, der seine Standardsoftware nach allen Seiten hin optimiert und verdrahtet hat, auslöst, wenn es um kleinere Änderungen des Bestellprozesses geht, weiß wahrscheinlich, wovon ich spreche. Auch bei Shopsystem-Herstellern wird man mindestes mildes Entsetzen ernten, sollte man vorschlagen, die Reihenfolge zweiter Schritte im Bestellprozess zu verändern oder dem Ratschlag von Björn zu folgen:

Seid kleinteilig und komponenten-orientiert, auch schon in der Auslieferung des Quellcodes. Werdet beliebig steck- und kombinierbar. Bietet gute, möglichst stabile Schnittstellen (darauf kommt es an).

Dabei glaube ich noch nicht einmal, dass diese Erkenntnis komplett an Händlern und Shopsystem-Herstellern vorbeigeht. Beiden stellt sich eine sehr wichtige „Wie“-Frage: Der Händler möchte wissen, wie die Implementierung einer solche Komponenten-orientierten Infrastruktur aussehen soll, welches Know-How dazu benötigt wird, wie er dieses Know-How in sein Geschäft bekommt und vor allem, was er dazu investieren muss. Der Shopanbieter wird sich nach der Monetarisierung dieses Modells fragen: Wenn möglicherweise die eigene Software in Einzelkomponenten fragmentiert wird, wie kann dann eine tragfähige Vermarktungsstrategie aussehen?

Die Kunden

Seien es Monolithen, verteilte Systeme oder sonstige technische Finessen: Den Shop-Kunden ist das alles sehr herzlich sehr egal. Er gelangt aus einem von vielen Gründen in einen Onlineshop, befindet sich dabei in einem von vielen Kontexten. Ganz gleich ob er nur recherchiert, sich inspirieren lassen möchte oder ganz gezielt nach etwas sucht: Es muss funktionieren! Ganz gleich ob jemandem in der Buchhaltung des Händlers die Zahlendarstellung in den Bestelldaten nicht passt. Ob es sich bei dem Shop um ein SaaS-System, eine Standardsoftware oder eine Individualentwicklung handelt. Oder ob der Shop in einem High-Performance-Cluster läuft oder auf einem alten Schuhkarton installiert ist. Ist der Kunde in einem Onlineshop unterwegs, ist nur unmittelbar relevant, dass die Mischung aus HTML, CSS, Bildern und JavaScript auf dem Gerät, dass er gerade verwendet, halbwegs passabel funktioniert.

Und hier komme ich zum Kern dessen, was mich in dieser Diskussion vor allem interessiert: Welche Innovationen kann es geben, die das (Kauf-)Erlebnis auf Kundenseite verbessern? Zwar habe ich weiter oben argumentiert, dass es so etwas gibt wie „gelerntes Verhalten“ und Standards auf Kundenseite, ich bin aber durchaus nicht der Meinung, dass diese in Stein gemeißelt sind. Hätten sich vor zehn Jahren die Menschen denken können, die Tastatursperre ihrer Mobiltelefone mit einer einfachen Wischbewegung lösen zu können?

Meine Brainfucks

Mit dieser Frage möchte ich in diesen letzten Abschnitt überleiten, der überschrieben ist mit dem Begriff, den Björn auch in seinem Artikel verwendet hat. Was sind also für mich die Brainfucks in diesem Bereich? Nun, als alter Literaturwissenschaftler möchte ich hier die Methode der Dekonstruktion einwerfen. Zum einen gibt mir das das Gefühl, dieses Fach doch nicht umsonst studiert zu haben, zum zweiten finde ich es im aktuellen Kontext spannend, einfach alles zu hinterfragen, was wir bis dato für als gegeben hinnehmen: Ein Shop hat Kopf- und Fußzeile und eine Navigation. Eine filterbare Suche. Trust-Elemente. Viele Zahlungsarten. Ein Backend. Eine Rabatt-Funktion. Gutscheine.

Die Frage ist doch: Welche unverrückbaren Fixpunkte gibt es im E-Commerce? Kunden müssen bezahlen und ein Lieferziel angeben, oder? Kunde möchten Produkte sehen, oder? Und ein Display ist immer rechteckig. Oder?! Vor dem Hintergrund einer teilweise disruptiven Markt-Entwicklung halte ich diese Fragen für durchaus legitim und nicht so esotherisch, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mögen.

Weiter diskutieren

Bezüglich unserer Diskussion möchte ich nun sagen: Der nächste bitte! 🙂 Wir sehen uns ja sicherlich auf einem der nächsten Events im Mai, da können und sollten wir diese Punkte weiter vertiefen.

Darüber hinaus habe ich für heute Abend (28.04.2014), 20.00h ein Google-Hangout zum Thema Shop-Innovationen geplant. Würde mich freuen, wenn wir uns dort noch ein wenig die Köpfe heiß reden könnten.

Update: Der Google-Hangout wurde komischerweise gelöscht. Hier ein neuer Versuch:

https://plus.google.com/b/106734903547026871819/events/conc2jbr9sepbr21mpq6c5n765s

(Bild von boegh)

Roman Zenner (ShopTechBlog)

Ich beschäftige mich seit mehr als 20 Jahren mit E-Commerce-Technologie und gehe hier im Blog der Frage nach, mit welchen Systemen Marken und Händler:innen ihr Online-Geschäft abbilden.

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