1. Mai 2025
AI

Programmiert Ihr noch oder „vibed“ ihr schon?

Als ChatGPT im November 2022 die Herzen des Planeten im Sturm eroberte und Millionen von Menschen innerhalb kürzester Zeit Geburtstagsgedichte mittels GenAI erstellten, kam schnell die Frage auf: Wenn diese neue Technologie ein lustiges Liedchen für Tante Heidi erzeugen kann und ChatGPT auch die komplexesten Uni-Abschlusstests mit Bravour besteht, kann man damit dann auch Programmiercode erzeugen? Schließlich sind Programmiersprachen von Natur aus strukturiert, eindeutig und es gibt eine Menge frei verfügbarer Dokumentation und Diskussion über ihre Anwendung im Netz.

Und siehe da: Mit einer ähnlichen Mechanik, mit der besagte Gedichte erzeugt werden können, können LLMs heute komplexen Code in jeder beliebigen Programmiersprache erzeugen und debuggen, man programmiert sozusagen seine Geschäftslogik und seine Benutzerschnittstellen zusammen, anstatt den Code manuell zu schreiben und zu testen. Und weil jedes moderne Technologie-Thema ein passendes Buzzword braucht, wurde auch hier der passende Begriff kreiert, in diesem Fall von Andrej Karpathy, einem der OpenAI-Gründer. Im Februar dieses Jahres schrieb er auf X:

There’s a new kind of coding I call „vibe coding“, where you fully give in to the vibes, embrace exponentials, and forget that the code even exists. It’s possible because the LLMs (e.g. Cursor Composer w Sonnet) are getting too good. Also I just talk to Composer with SuperWhisper so I barely even touch the keyboard. I ask for the dumbest things like „decrease the padding on the sidebar by half“ because I’m too lazy to find it. I „Accept All“ always, I don’t read the diffs anymore. When I get error messages I just copy paste them in with no comment, usually that fixes it. The code grows beyond my usual comprehension, I’d have to really read through it for a while. Sometimes the LLMs can’t fix a bug so I just work around it or ask for random changes until it goes away. It’s not too bad for throwaway weekend projects, but still quite amusing. I’m building a project or webapp, but it’s not really coding – I just see stuff, say stuff, run stuff, and copy paste stuff, and it mostly works.

Nachdem ich in den letzten Wochen mit Tools wie Bolt, Cursor und Lovable experimentiert habe, kann ich sagen: Das ist sehr treffend zusammengefasst. Es ist faszinierend zu sehen, wie das Modell nach einer kurzen Aufforderung anfängt zu rechnen, das Grundgerüst einer Anwendung erstellt, Datei für Datei schreibt, den eigenen Code überprüft und verbessert und am Ende tatsächlich eine benutzbare Anwendung anzeigt. Man teilt der Maschine sozusagen seine Wünsche mit – „es soll eine Liste angezeigt werden“, „nach erfolgreichem Speichern soll es ein optisches Feedback geben“, „Nutzer:innen können einen Account anlegen und ein Profilbild hochladen“ – und nach einigem Rechnen erscheinen diese Anforderungen tatsächlich.

Aber natürlich gibt es ein „aber“: Ich bin bei weitem kein gelernter und erfahrener Entwickler (in meiner Magento-Zeit bin ich nicht über halbwegs passablen PHP-Demo-Code hinausgekommen), aber selbst mir ist aufgefallen, dass zumindest beim derzeitigen Stand der Technik noch einiges im Argen liegt. Dieses Zitat fasst es bestens zusammen:

LLMs aren’t quite ready for “free-soloing” on anything beyond very small greenfield codebases. When you try using agentic AI to add non-trivial functionality to an existing codebase you will quickly discover that the current state-of-the-art models have major limitations:

  • They don’t have great judgement or taste when it comes to bigger technical decisions.
  • They tend to focus on short-term fixes, leaving issues which will be “fixed later on”.
  • They tend to double-down on incorrect approaches and get stuck deep in rabbit holes.
  • Bad judgement tends to compound – the AI isn’t able to spot that it made a bad design decision, and then back up and take a different approach.
  • Coding AIs have a tendency to gold-plate and over-engineer their solutions.
  • They don’t like to work incrementally – they want to deliver everything in one go.

Wie so oft, wenn es um GenAI geht, haben wir es auch im Kontext von „Vibe Coding“ nicht mit einer 100% wasserdichten Lösung zu tun, die man einfach blind und ohne eine gesunde Portion Skepsis einsetzen sollte. Aus meiner Sicht braucht es ein technisches und architektonisches Grundverständnis, um mit Bolt & Co. tatsächlich produktiven Code zu erzeugen. Aber der Anfang ist definitiv gemacht und diese Tools eignen sich bereits hervorragend, um z.B. ein Proof of Concept zu erstellen oder sich bei einfachen, sich wiederholenden Coding-Aufgaben unterstützen zu lassen.


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Roman Zenner (ShopTechBlog)

Ich beschäftige mich seit mehr als 20 Jahren mit E-Commerce-Technologie und gehe hier im Blog der Frage nach, mit welchen Systemen Marken und Händler:innen ihr Online-Geschäft abbilden.

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