Next Generation Commerce

In diesem Artikel (Auf eine spannende Blog-Zukunft!) und auch in unserem Jahresrückblicks-Podcast hatte ich vor längerer Zeit beschrieben, wie ich die Situation der derzeit populären Shop-Systeme einschätze. In diesem Beitrag möchte ich kurz skizzieren, warum ich glaube, dass insbesondere für ambitionierte und schnell wachsende Händler diese „klassischen“ Systeme immer weniger relevant werden und zunehmend neueren Konzepten Platz machen.

Die Kinderstube des WWW

Das Internet ist so alt wie das wiedervereinigte Deutschland. Im Jahr 1990 legte Tim Berners-Lee bekanntermaßen die Grundlagen für das WWW. Er entwickelte den ersten Webserver, das HTTP-Protokoll sowie die Auszeichnungssprache HTML und schuf damit die Basis für das Netz wie wir es heute kennen. Zwar digitalisierten Unternehmen schon vorher ihre Prozesse, aber erst durch das explosionsartige Wachstum des Internet und der globalen Vernetzung kam es zu der Umwälzung, die wir heute kennen. Das Digitale verändert die Gesellschaft, stellt scheinbar Selbstverständliches infrage und macht vor keiner Branche halt. Wenig überraschend hat auch der Handel alle Hände voll damit zu tun, den sich fast täglich wechselnden Gegebenheiten anzupassen.

Enter: E-Commerce-Software

Als Intershop auf der Cebit 1998 die erste E-Commerce-Software vorstellt, hatten sich die Menschen gerade daran gewöhnt, PCs mit der grafischen Benutzeroberfläche von Windows 95 zu nutzen. Der heimische Rechner – meist ein Eckdatum modernen Ingenieursschaffens in Beigeplastikoptik – stand im Wohnzimmer in einem fahrbaren Computertisch und verband sich über ein Modem lautstark mit dem Internet.

Für die Art und Weise, wie man zu dieser Zeit die ersten Onlineshops nutzte, gab es also nicht viele Variationen. Solange Internetseiten kompatibel mit dem Internet Explorer 5 und die enthaltenen Grafikdateien nicht so groß waren, dass sie in den üblichen 56 KBit-Leitungen steckenblieben, war für ein zeitgemäßes Online-Erlebnis gesorgt. Händler und Verbraucher machten die ersten gemeinsamen Schritte im E-Commerce und freuten sich, wenn die richtige Ware zur richtigen Zeit am richtigen Ort ankam und die Bezahlung ordnungsgemäß funktionierte.

In den folgenden Jahren brachten weitere Unternehmen E-Commerce-Lösungen auf den Markt: von quelloffen bis quellverschlossen, von ultraleicht bis Feature-Stakkato, für Gelegenheits-Händler als auch für multinationale Handelskonzerne. Jedoch, so unterschiedlich die verschiedenen Technologien, Lizenzmodelle und Zielgruppen auch waren, die Produkte wurden alle nach den seinerzeit gängigen Software-Architektuprinzipien entwickelt. Was an Protokollen und Infrastruktur damals noch nicht verfügbar war, wurde von den Entwicklern eigens für ihr Shopsystem geschrieben. Das Resultat waren Applikationen, die bauchladenartig sämtliche Funktionen für den Betrieb eines Onlineshops bereitstellten – neben Katalogverwaltung also beispielsweise Payment-, Versand- und Rabattlogik sowie mehr oder weniger komplexe integrierte CRM- und CMS-Systeme. Für die Pioniere des digitalen Handels hatten Shopsysteme damit große Ähnlichkeit zu einer Microsoft-Office-Suite: Es gab regelmäßige Updates für alte Fehler und neue Funktionen und alles ließ sich über ein zentrales Interface administrieren.

„An iPod – a Phone – an Internet Communicator“

In vielerlei Hinsicht hatte die Präsentation des ersten iPhone im Jahr 2007 große Auswirkungen auf die Welt des E-Commerce. Schnell war klar, dass es eben nicht nur ein per Kupferstrippe verbundener Plastikkasten sein muss, um das Internet entdecken. In Verbindung mit hohen Übertragungsgeschwindigkeiten im mobilen Netz und erschwinglichen Volumentarifen begann das „Internet in der Hosentasche“ seinen Siegeszug. Apple zeigte mit dem Beginn seiner App-Economy zudem, dass es eine Internetnutzung jenseits des Browsers gibt und präsentierte mit den App- und iTunes-Stores zwei plastische Beispiele dafür, wie einfach und benutzerfreundlich E-Commerce-Transaktionen für digitale Güter sein können.

Systeme für heute und morgen

Der Onlinehandel wächst, vernetzt sich mit dem stationären Handel und professionalisiert sich. Unternehmen, die international aktiv sind, Milliardenumsätze verzeichnen und ihren Kunden auf vielen unterschiedlichen Endgeräten ein bequemes und unterhaltsames Einkaufserlebnis präsentieren möchten, haben immer höhere Anforderungen an Software, die von den Systemen der Gründerzeit immer weniger erfüllt werden können. Diese waren für explosionsartige Besucherstürme ebensowenig vorbereitet wie für tägliche Updates und Zugriffe über Gazillionen von Endgeräten. Stattdessen schleppen sie – die Ungnade der frühen Geburt – noch tief im Kern Funktionen mit sich herum, die heutzutage anderweitig übernommen werden und damit eher einen Hemmschuh darstellen.

Best-of-breed: Etwas mehr Arbeitsteilung bitte

Im Fahrzeugbau führte seinerzeit die Trennung von Arbeitsschritten wie Karosseriebau oder Motorenfertigung dazu, dass Automobile in immer besserer Qualität, innerhalb immer kürzer Entwicklungszyklen und im industriellen Umfang produziert werden konnten. Ähnliches lässt sich seit einiger Zeit auch bei den Shopsystemen der neuen Generation feststellen, die bewusst auf einen All-in-one-Ansatz verzichten. Am deutlichsten wird das bei der Trennung der Frontend- und Backend-Layer. Wenn die Anzahl der Endgeräte und Nutzungskontexte exponentiell steigt – man denke an Voice, Chatbots, AR/VR und dergleichen – ist es sinnvoll, die nutzerseitige Anwendungsschicht von der Business-Logik im Hintergrund zu trennen.

Mit Produkten wie About You Cloudcommercetools, Moltin oder Skava etwa nutzen Händler eine „headless“-Cloud-Plattform, bei der die eigene Frontend-Anwendung über eine API mit dem Backend-System kommuniziert. Spryker stellt – allen kommunikativen Pivots zum Trotz – ebenfalls einen Baukasten zur Verfügung, mit dessen einzelnen, generischen Bausteinen sich individuelle Anwendungen erstellen lassen. Und das recht junge Software-Produkt FRONTASTIC verzichtet sogar auf sämtliche Checkout- und Backend-Funktionalität und stellt Händlern „nur“ ein schnelles Frontend-as-a-Service zur Verfügung. Das Baukastenprinzip findet durchaus auch bei den etablierten Playern Anklang: ePages etwa hat sich entschlossen, seine SaaS-Plattform auf Basis von Microservices komplett neu zu bauen.

Software-Suiten waren einmal das Nonplusultra im E-Commerce, teuer, (vermeintlich) garantiert alles enthalten, eine Anwendung, ein Ansprechpartner. In einer Zeit jedoch, in der private Raumfahrtunternehmen Elektroautos und Schaufensterpuppen gen Mars schicken, setzt sich nicht nur unter Fast-Movern und Pureplay-Rockstars die Erkenntnis durch, dass es nicht „die eine“ seligmachende Software gibt.

Wie Unternehmen hier agieren und profitieren, wird in den nächsten Wochen verstärkt der Fokus dieses Blog sein.

(Bild von Kreg Steppe (Back o‘ the Bridge) [CC BY-SA 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0)], via Wikimedia Commons)

 

 

Roman Zenner (ShopTechBlog)

Ich beschäftige mich seit mehr als 20 Jahren mit E-Commerce-Technologie und gehe hier im Blog der Frage nach, mit welchen Systemen Marken und Händler:innen ihr Online-Geschäft abbilden.

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