Vorletzte Woche war es soweit: der lang erwartete Gartner Magic Quadrant for Digital Commerce 2018 wurde veröffentlicht (a.k.a. der Shoptech-Nobelpreis). Die Belegschaften von insgesamt 18 E-Commerce-Systemherstellern weltweit hatten viel Grund zum Feiern und auch in der Folgewoche war die diesbezügliche Social-Media-Konversation mit freudentrunken noch zurückhaltend beschrieben. Aber warum hat dieser Report solch einen Stellenwert? Was bedeutet er für die Unternehmen und was sagt er über den aktuellen Shoptech-Markt aus?
Gartner?
Gartner Inc. ist eins der bekanntesten IT-Marktforschungsunternehmen mit Sitz in Stamford (USA). Es wurde 1979 gegründet, seine Analysten beschäftigen sich mit vielfältigen Themen der digitalen Geschäftswelt. Sie sind meistens auf bestimmte Bereiche spezialisiert, bieten ihr Wissen etwa in Form von Forschung an, führen aber auch individuelle Beratung durch und sind schließlich gern gesehene Gäste bei digitalen und analogen Veranstaltungen.
Der Anspruch von Gartner ist quasi-akademisch: Zur Erstellung des MQ folgt man einem streng reglementierten Procedere, das versucht, nach objektiven Kriterien verschiedene Anbieter miteinander zu vergleichen. Es handelt sich aber nicht um einen öffentlichen Lehrbetrieb, sondern um ein Unternehmen, das im wirtschaftlichen Interesse handelt (was man spätestens an den hohen Mitgliedsbeiträgen sowie saftigen Gebühren etwa für Veröffentlichungsrechte sieht.) Forschungsergebnisse sind demnach auch nicht frei verfügbar – werden dem interessierten akademischen Publikum also nicht in Form von Peer-Reviewed Journals präsentiert – sondern urheberrechtlich geschützte Werke, deren Erwähnung und Verbreitung mit Argusaugen überwacht werden. Das ist übrigens auch der Grund ist, warum ich hier nur interpretieren, nicht aber Diagramme einbinden darf etc. Um also meiner Argumentation weiter folgen zu können, empfehle ich den Download des Reports auf dieser Seite meines Arbeitgebers commercetools.
Gartner hat im englischsprachigen Raum, besonders in den USA, zweifellos einen sehr guten Ruf. Die analysierten Unternehmen agieren international, sind aber nicht überall gleich aktiv – weswegen man hierzulande von einigen vorgestellten Lösungen noch nie etwas gehört hat. Gerade wenn es um Investitionen in Software wie etwa einer E-Commerce-Plattform geht, ist es gang und gäbe, den entsprechenden Report zu erwerben und die erwähnten Anbieter in den Evaluierungsprozess aufzunehmen. Oder anders ausgedrückt: wer nicht in den Quadranten erwähnt wird, existiert für dieses Kundensegment einfach nicht.
Methodik & Kriterien
Alle Magic-Quadrant-Reports werden regelmäßig aktualisiert. Das bedeutet, dass relevante Unternehmen sich regelmäßig gemäß den Kriterien der Analysten durchchecken lassen können. Laut Gartner werden dazu aktuell 90 verschiedene Anbieter durchleuchtet. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: es geht um die Wurst, „Hose runterlassen“ ist milde formuliert.
Wichtigstes Kriterium: der Lizenzumsatz. Erreicht man bestimmte Umsatzgrößen oder kann ein entsprechendes Wachstum vorweisen, ist man MQ-Kandidat. Aktuell genügen Gartner weltweit E-Commerce-Plattformen diesen Bedingungen und können aufgrund anderer Kriterien auf die vier Quadranten aufgeteilt werden. Dabei liegen auf der X-Achse die „Completeness of Vision“, auf der Y-Achse die „Ability to Execute“. Die genaue Platzierung ergibt sich anhand von Bewertungen zu verschiedensten Themen, diee mittels ellenlanger Excel-Sheets abgefragt werden. Es geht etwa detailliert um Produktmerkmale und Funktionen, aber auch um Marketing und Vertrieb (Wie lautet die Go-to-Market-Strategie?) sowie (Referenz-)Kunden und Partner-Netzwerk. Schließlich die Vision: Wieso das Ganze?
Neben diesen bekannten (und ob ihrer Länge auch gefürchteten) Excel-Listen müssen sich die Unternehmen vor den Analysten präsentieren. In mehrstündigen Vor-Ort-Terminen wird die Geschichte des Unternehmens mittels aufwändiger Powerpoint-Kunstwerke präsentiert, in einem Demo-Teil zeigt man dann noch konkret, was man technisch so alles leisten kann. In Summe ergibt sich eine Bestandsaufnahme, die alle Teile des Unternehmens betrifft – genauer sind dann nur noch Due-Diligence-Prozesse im M&A-Kontext.
Man merkt schon: die Forschung ist in diesem Bereich schon ziemlich gründlich und unterscheidet sich maßgeblich von Shopsystem-Vergleichen, die in schöner Regelmäßigkeit durch den E-Commerce-Blätterwald rauschen.
Was ist denn nun mit den einzelnen Systemen?
Schauen wir uns einmal die einzelnen Quadranten nacheinander an:
Leaders:
Rechts oben – also sowohl von der Produktvision als auch von der Umsetzungspower mit den besten Bewertungen – finden sich die Anbieter, die den Shoptech-Olymp erklommen haben. Sie haben in der Regel mehr als 9-stellige Umsätze, große internationale Referenzkunden, über die Jahre gewachsene und etablierte Ökosysteme sowie umfangreiche Produkte, die schon in jeder Branche der Welt im Einsatz ist. In diesem Jahr liegen dort Salesforce (Commerce Cloud), SAP (Hybris), Oracle, Magento, Digital River und IBM (Websphere Commerce) – exakt die gleichen Systeme wie im Vorjahr. Salesforce hat sich nach seinem Kauf des Intershop-Sprösslings Demandware im Herbst 2016 im Folgejahr nach oben katapultiert. IBM und Magento haben die Plätze getauscht, Magento liegt jetzt weiter vorn; und das, so wird es explizit in der Erläuterung erwähnt, ohne die jüngsten Kaufabsichten von Adobe zu berücksichtigen. Überrascht hat die Tatsache, dass Oracle seine Position stabil verteidigt, obwohl sein Flagschiff-Produkt ATG nicht mehr weitergeführt wird und Kunden eher zögerlich sind, was die Migration zur Alternative Oracle Commerce Cloud angeht.
Auffällig ist, dass in diesem Quadranten kein einziger echter Cloud-Anbieter erscheint. Zwar ist Demandware als Cloud-Software bekannt geworden, und auch Magento und Oracle mühen sich redlich, sich mit dem Attribut „Cloud“ einen moderneren Anstrich zu geben: Letztlich handelt es sich aber um On-Premise-Lösungen, die vom Hersteller selbst gehosted und „cloudifiziert“ wurden.
Challengers:
Im Quadranten links daneben liegen die Challengers, also diejenigen, deren Produkte nicht ganz so umfangreich sind wie die der Leaders, und die sich vergleichsweise schwer mit neuen Märkten und neuen Zielgruppen tun. Aktuell sind das Episerver und Apttus (nicht zu verwechseln mit Apptus oder Aptos). Episerver wurde 1994 in Schweden gegründet und hat ursprünglich als CMS begonnen. Mittlerweile bietet das Unternehmen auch ein Commerce-Modul an, das wie der Rest der Plattform auf .NET beruht. Episerver hat damit seine Position gehalten, in 2016 wurde das Unternehmen noch als „Niche Player“ geführt.
Das amerikanische Unternehmen Apttus ist seit 2006 auf dem Markt und richtet sich mit seiner Plattform, die ursprünglich aus dem CPQ-Umfeld kommt, an B2B-Kunden. In den vergangenen Jahren war Apttus als „Visionary“ gelistet, die Analysten haben für 2018 scheinbar die Vision als nicht mehr ganz aktuell eingeschätzt.
Visionaries:
Der Quadrant rechts unten beschreibt laut Gartner die Unternehmen, die mit technologischen Innovationen den Markt aufwirbeln, in puncto Bekanntheit und Größe aber (noch) nicht mit den Leaders mithalten können.
In diesem Jahr finden sich hier zum ersten Mal commercetools (das freut mich aus verständlichen Gründen besonders!) und Elasticpath. commercetools, gegründet 2006 in Deutschland, ist ein „headless“-System mit Fokus auf API-orientierter Architektur. Das System stellt Daten und Funktionen über eine REST-API zur Verfügung und lässt sich damit an unterschiedlichste Benutzeroberflächen andocken. In eine ähnliche Kerbe schlägt Elasticpath, das schon im dritten Jahr in Folge diese Position innehat. Das Unternehmen ist 2000 in Kanada gegründet worden und präsentiert sich ebenfalls als Headless-System.
Hier zeichnet sich ab, dass modulare, leichtgewichtige Cloud-Lösungen zunehmend in den Fokus der Analysten rücken. War bis vor Kurzem eine Plattform nur dann „vollständig“, wenn sie einem Suite-Ansatz folgte – Analysten also hinter allen E-Commerce-Funktionen ein Häkchen setzen konnten – setzt sich scheinbar die Erkenntnis durch, dass Flexibilität und Geschwindigkeit mehr Potential gegenüber vollintegrierten Lösungen haben.
In diesem Zusammenhang ist auch das Ausscheiden von Intershop aus dem diesjährigen MQ zu sehen. Nachdem der Anbieter aus Jena im letzten Jahr noch als „Visionary“ ausgezeichnet wurde, ist er in diesem Jahr nach einer gefühlten Ewigkeit (den ältesten MQ auf den ich Zugriff habe stammt von 2001 und dort wird Intershop bereits als Visionary geführt) überhaupt nicht mehr im Report berücksichtigt.
Niche Players:
Börsenbewertung von gut 17 Millarden USD aber laut Gartner immer noch Nischenanbieter: Willkommen bei Shopify und sieben weiteren Anbietern im letzten Quadranten der Niche Players. Laut den Analysten sind hier alle Plattformen versammelt, die kostengünstige Lösungen für kleinere Marktteilnehmer anbieten, und nur einen begrenzten geografischen Focus haben. Neben dem 2004 gegründeten Shopify, bei dem vor allem die geringe TCO und das große Partner-Ökosystem positiv hervorgehoben wird, findet sich dort mit BigCommerce ein weiterer SaaS-Anbieter, der in der letzten Zeit vor allem mit größeren Kapitalrunden von sich reden macht. Wie auch bei Shopify hebt Gartner beim dem 2009 gegründeten Unternehmen die geringen Kosten sowie die einfache Bedienung hervor.
Hierzulande etwas weniger bekannt dürfte Skava sein. Das Unternehmen aus San Francisco ist seit 2002 am Markt und wirbt mit einer auf Microservices basierenden, Cloud-Plattform, was auch Gartner positiv hervorhebt. Außerdem dabei ist Kibo Commerce, ein 2016 aus mehreren Unternehmen – unter anderem Mozu – und Technologien zusammengesetzes (zusammengekauftes klingt so uncharmant) SaaS-Stack. Bekannt dürfte auch Sitecore sein, als .NET-CMS 2001 in Dänemark gegründet und nach dem Kauf des Commerce Server von Microsoft 2013 ebenfalls als Commerce-Anbieter aktiv. Die restlichen drei Anbieter 2Checkout, Unilog, VTEX sagen mir persönlich nichts, aus Platz- und Zeitgründen verzichte ich jetzt einfach mal auf einen genaueren Blick.
Was will uns Gartner mit dem MQ sagen?
So, das war zugegeben eine Menge Holz, und sicherlich könnte man zu jedem einzelnen Anbieter noch viel mehr schreiben. Fehlt nur noch das Fazit. Und da möchte ich drei Punkte herausheben, die mir bei der Analyse der Reports auf- und eingefallen sind:
- Cloud is the new black: Die meisten Anbieter bemühen sich um das Label „Cloud“. Selbst klassische, aus der On-Premise-Welt stammende Anwendungen wie Hybris, Oracle und Magento versichern, dass es auch eine Cloud-Variante gebe bzw. man sich zu einer solchen entwickeln möchte. Leider stiftet das Verwirrung, denn eine Single-Tenant-Applikation für seine Kunden zu hosten ist eben nicht Cloud.
- Neueinsteiger im Headless-/API-first-Segment: A propos Cloud: in diesem Jahr gibt es mit Skava und commercetools gleich zwei echte Cloud-Anbieter im Visionaries-Quadranten, die mit einem Headless-Ansatz den System-Markt aufrollen. Es scheint also ausreichend große, internationale Kunden zu geben, die sich bewusst für eine API-basierte Lösung entscheiden und ihr Geschäft nicht mehr mit monolithischen Suites abbilden möchten bzw. können
- Größe ist nicht alles: Selbst die $580 Mio. Umsatz (2017) von Shopify reichen nicht, um sich als Leader zu qualifizieren, ebenso die $100 Mio. Umsatz (2017) von BigCommerce. Der Markt hat sich zunehmend fragmentiert und kleine Player erarbeiten sich ihre Position im Markt. Dabei rücken neue technische Ansätze in den Vordergrund und bieten ein breites Spektrum an Optionen.
Viele der angesprochenen Unternehmen werden übrigens auch in meiner Masterclass „Shoptech“ am 4. Juli auf der diesjährigen K5-Konferenz in Berlin erwähnt. Tickets gibt’s auf dieser Seite, freue mich auf ein volles Haus!
(Bild von pexels.com)
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