Kopflos in die Shoptech-Zukunft?

In der Debatte über die Innovationsfähigkeit von E-Commerce-Software-Herstellern, die vor Kurzem mit unserem Gespräch mit den Machern von FRONTASTIC wieder entflammt ist, hat Jochen einen Tweet abgesetzt, der mich zum Nachdenken gebracht hat:

Da ist tatsächlich mehr dran, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Um das zu erklären, muss ich allerdings ein wenig ausholen.

Die ersten Frontends

Das erste Shopsystem, mit dem ich selbst gearbeitet habe, war osCommerce. Seit 2001 auf dem Markt, war es vom technischen Standpunkt her eine mit wüstem PHP-Spaghetticode gebaute Anwendung, die sich aber gerade deswegen mitsamt seinen Derivaten wie Gambio, xt:Commerce & Co. immer noch großer Beliebtheit erfreut. Es gibt eine große Entwickler-Community, unfassbar viele Plugins und Integrationen und die Software lässt sich sehr einfach – und sehr dreckig – auf die jeweiligen Gegebenheiten anpassen. Was den Programmierer Magenschmerzen bereitet, muss aber nicht zwangsläufig für den Betreiber so sein: Reuter schafft es mit seiner angepassten osCommerce-Version laut EHI mit einem Umsatz von 121 Millionen Euro (2016) immerhin unter die Top-50 der erfolgreichsten deutschen Onlineshops.

Das Frontend von osCommerce hatte damals schon viel von dem, was sich in den folgenden Jahren als E-Commerce-Standard etablieren sollte: Kategorie- und Produktdetailseiten, Warenkorb mit Rabatt- und Gutscheinfunktionalität, Checkout-Strecke mit diversen Payment- und Versandoptionen. Dazu eine Suchfunktion, ein Mein-Konto-Bereich und sogar ein Mini-CMS, in dem man Textbausteine für das Impressum und die Datenschutzbestimmungen pflegen konnte.

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Das Standard-Frontendlayout von osCommerce

Damals im dreispaltigen, babyblauen Dreispaltenlayout. Aber das war halt en vogue – Amazon sah zur Jahrtausendwende auch nicht wesentlich schicker aus:

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Rein technisch war das Frontend eng mit dem Backend verdrahtet, es gab keine Trennung zwischen den beiden, alles interagierte mit allem. Eine zusammengebackene, monolithische PHP4-Lösung, in der Layout, Business-Logik und Datenhaltung in den selben Dateien stattfanden. Und in der die Erzeugung eine Schnippsels HTML für eine neue Tabelle auf der Produktdetailseite nur ein paar Codezeilen entfernt von einem SELECT auf die Shopdatenbank entfernt war.

Magento

Mit Magento änderte sich diese Situation. Im Frühjahr 2008 auf den Markt gebracht, wurde die Software von der damaligen US-amerikanischen Agentur Varien entwickelt, die bis dato vor allem mit osCommerce gearbeitet hatte. Die Magento-Architekten haben bei ihrer Entwicklung erkennbar vieles von dem professionalisiert und weiterentwickelt, woran osCommerce krankte: Trennung und Abstraktion der Anwendungsschichten, objektorientierte Programmierung und das berühmt-berüchtigte EAV-Datenmodell. Fast scheint es so, als hat man die alten osCommerce-Geister mit dieser, von Kritikern als „overengineered“ geschmähten Architektur endgültig vertreiben wollen. In Summe wurde Magento als modularer Monolith entwickelt, der auf dem Zend Framework basiert.

Interessant ist in diesem Zusammenhang besonders das Thema Frontend, denn hier bewegt sich Magento optisch und funktional nicht weit weg vom Standard. Auch hier finden wir die üblichen Wege zum Produkt sowie eine konfigurierbare Checkout-Strecke. Neu hinzugekommen sind vor allem eine funktionierende Filternavigation und Spielereien wie Produktvergleiche, die durch das neue Attributsystem möglich gemacht werden.

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Klassisches Standard-Template von Magento 1

Technisch gesehen ist das Frontend sehr viel sauberer strukturiert: einzelne Inhaltsblöcke werden mittels XML angeordnet, über (P)HTML strukturiert und über CSS gestyled. (Dem Vernehmen nach ist das beim Nachfolger Magento 2 sogar noch komplexer.) Dadurch wird eine Individualisierung deutlich aufwändiger als etwa bei osCommerce. Was erfahrungsgemäß bei vielen Projekten dazu führt, dass die Beteiligten sich darauf beschränken, dem Frontend nur einen minimal-invasivem, neuen Anstrich zu geben, anstatt das UI-Rad neu zu erfinden. Ungewollt oder nicht zementiert also eine modernere Architektur den Frontend-Status-Quo.

Schöne neue, mobile Shopping-Welt

Seit dem Launch von Magento sind zehn Jahre vergangen. Die Welt hat einen Tesla gen Mars geschossen, einen orangefarbenen Proleten ins Weiße Haus gewählt und entsperrt ihre Mobiltelefone mit ihrem Gesicht. Im Web ist das mobile Zeitalter angebrochen, mittlerweile nutzen mehr Menschen das Netz über ein mobiles Gerät als über einen stationären Rechner. Peak-PC im Herbst 2016:

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Shopsystem-Hersteller reagierten mit neuen, mobilfähigen Templates, Responsive Webdesign kristallisierte sich schnell als Best-Practice heraus. Die Idee dahinter: codet man ein Frontend so, dass es sich auf die Gegebenheiten des jeweiligen Endgeräts anpasst, wird es insgesamt benutzbarer und Besucher können einfacher bestellen. Das stimmt zwar, wurde aber oft nicht zuende gedacht. Zwar wurden Bedienelemente größer und damit fingerfreundlicher gestaltet, aber die meisten Webshops sind immer noch die komplexen Produktkataloge und Formularfeldwüsten von vor knapp 20 Jahren – auch wenn sie auf einem nagelneuen iPhone X aufgerufen werden.

A propos iPhone X: ein weiterer Denkfehler in diesem Zusammenhang ist, dass Smartphones ja im Grunde nur kleinere, tragbare Browser seien. Dass die Mechanik „Kunde sucht in der Suchmaschine nach einem Produkt“ – „findet Anbieter XY, der gut in SEO und SEM investiert hat“ – „besucht dessen Shop/Frontend“ – „durchläuft den dortigen Checkout“ auch ohne weiteres auf mobile Geräte übertragbar sei. In Wahrheit jedoch nutzen mobile Anwender Apps, verbringen ihre Zeit auf Facebook, Instagram und Youtube oder in Messengern wie Whatsapp und iMessage. Der primäre Einstiegspunkt ist also immer weniger wahrscheinlich der mobile Browser und das „freie“ Internet dahinter, sondern eine Handvoll von Apps, über die potentielle Kunden mit ihren Marken in Berührung kommen, sich von ihren Influencern inspirieren und von ihren Freunden überzeugen lassen.

Das alleine reicht meiner Meinung schon aus, um eine These wie „das klassische Webshop-Frontend hat seinen Zenit bereits überschritten“ zu formulieren. Nimmt man jetzt noch komplett neue Geräteklassen wie Voice Devices oder Bestellbuttons hinzu oder schaut sich an, was Chatbots und AR-Anwendungen bereits heute leisten können, ist man nur einen Tastendruck davon entfernt, mal wieder etwas in einem Blog-Post sterben zu lassen.

Backend-as-a-Commodity

Was also tun als System-Hersteller in dieser Gemengelage? Die Antwort – fast erwartbar: Gehet hin und baut ein Headless-System wie etwa das von commercetools oder contentful. Damit ist der Ansatz gemeint, Funktionen im Backend bereit zu stellen, die von allen erdenklichen Datenerzeugern und Datenverbrauchern – man muss ein wenig Schwurbeln, um nicht das Wort „Frontend“ zu verwenden – über eine generische API genutzt werden können. Der „Kopf“ fehlt also in diesem Bild, nur der „Rumpf“ mitsamt seinen Vitalfunktionen bleibt.

Was im medizinisch-anatomischen Kontext eher Frankensteinesk anmutet, hat in der E-Commerce-Welt durchaus seine Berechtigung. Ob nun eine mobile App, ein Messenger, ein Bestellbutton oder ein Sprachkommando eine Bestellung auslöst und Daten über die API gen Rumpf schickt, ist diesem total egal. Diese Ignoranz funktioniert auch in die andere Richtung: der Rumpf sendet Preisinformationen, die Alexa vorliest, die auf Instagram eingeblendet werden oder die eine rote Diode aufleuten lassen, welche ein enthusiastischer Lötkolben-Spezialist in seine IoT-Anzeigemaschine gebaut hat.

Hirn vs. Standard

Und damit kommen wir zum Auslöser dieses Textes, dem Wort „hirnlos“. Ein Headless-System hat natürlich eine ganze Menge (künstliche) Intelligenz verbaut, etwa um komplexe Produktkataloge sowie Preis- und Rabattstrukturen abzubilden, Drittsysteme aus allen möglichen Bereichen zu integrieren und auch bei hohen Zugriffszahlen effizient und verlässlich zu skalieren. Letztlich jedoch fällt solch ein System für Anbieter in den Bereich „commodity“: es muss einfach funktionieren. (Baut jemand ein neues Firmengebäude, ist er in der Regel ja auch an die lokale Wasserversorgung angebunden und muss sich nicht den Kopf über eine eigene Brunnenanlage zerbrechen.)

Das eigentliche „Hirn“ liegt woanders, nämlich genau dort, wo Kundenansprache stattfindet und Mehrwert geschaffen wird. Dieses Hirn ist nicht durch Frontend-Technologie standardisierbar, sondern muss – ebenfalls mit viel Hirn – gebaut und getestet werden. Das kann ein Alexa-Skill, eine Instagram-Anbindung oder eine eigene App mit dem gewissen Etwas sein, mit dem man Kunden überzeugt und an sich bindet.

In diesem Sinne: Auf die Hirnlosigkeit!

Roman Zenner (ShopTechBlog)

Ich beschäftige mich seit mehr als 20 Jahren mit E-Commerce-Technologie und gehe hier im Blog der Frage nach, mit welchen Systemen Marken und Händler:innen ihr Online-Geschäft abbilden.

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