27. Juli 2024

Shopsysteme: Deutscher als Bratwurst mit Senf?

Deutsche Ingenieurskunst: wenn man dieses Wortpaar hört, denkt man unweigerlich an Siemens, an Mannesmann und Krupp, an Maschinen und Fließbänder. Und natürlich auch an den Verbrennungsmotor, an Daimler, Porsche und BMW – kurz an alle Produkte, auf die in den letzten Jahrzehnten das Gütesiegel „Made in Germany“ geklebt wurde.

Es gibt allerdings einen Bereich, der ein wenig unter dem Radar fliegt – nicht zuletzt daher, weil es im weitesten Sinne mit Digitalisierung zu tun hat, die ja bekanntermaßen nicht die hiesige Paradedisziplin ist. Es geht um E-Commerce-Software.

Ja, richtig gelesen. In den vergangenen drei Jahrzehnten gab und gibt es viele Unternehmen aus allen Ecken der Republik, die in allerlei Varianten Software ersonnen haben, auf deren Basis Webshops weltweit basieren. Es folgt ein kleiner Ausflug in die wunderbare Welt der Shopsysteme:

E-Commerce made in Thüringen

Vor ziemlich genau 30 Jahren präsentiert das Unternehmen Intershop Communications aus Jena der staunenden Öffentlichkeit eine Software für Onlineshops. Auf der CEBIT 1994 stellen Stephan Schambach und seine Mitgründer eine Software vor, auf deren Basis erste Kunden wie Otto und Hewlett-Packard ab 1995 live gehen. Nach einem erfolgreichen Börsengang 1998 gehörte Intershop zu den Gewinnern des sogenannten Neuen Markts, musste aber im Dotcom-Crash ordentlich Federn lassen.

Intershop war technologisch und teilweise personell die Grundlage für die nächste Generation von E-Commerce-Software. Einer der Mitgründer, Wilfried Beeck, übernimmtdie Rechte der Version 4 von Intershop und gründet ePages. Die Plattform spezialisiert sich bis heute vor allem auf kleinere und mittlere Unternehmen und stellt seine Software als Whitelabel-Lösung z.B. Kund:innen von 1&1 zur Verfügung.

Stephan Schambach zieht es nach der Gründung von Intershop in die USA, wo er Intershop zur Cloud-Plattform umbaut und ab 2004 die Software unter den Namen Demandware vertreibt. Im Jahr 2016 wird Demandware von Salesforce übernommen und ist seitdem unter dem Salesforce Commerce Cloud bekannt.

Eine letzte Wendung nimmt die Geschichte von Stephan Schambach noch: 2015 gründet er das Unternehmen NewStore, das unter anderem ein POS-System für den stationären Handel anbietet.

Mehr oder weniger Open-Source

Solingen im Jahr 2000. Der Programmierer Harald Ponce de Leon beginnt damit, als Hobbyprojekt ein Shopsystem zu entwickeln, das als Open-Source-Software zunächst The Exchange Project heißt und später als osCommerce bekannt wird. Die Software wird in der Folge einige Male geforked und bildet den Grundstein für Produkte wie xtCommerce und Gambio.

2003 wird in Freiburg das Unternehmen OXID eShop gegründet, das eine kommerzielle, auf PHP basierende Software anbietet, zu der es später auch eine Open-Source-Variante gibt. Ein Jahr später veröffentlicht die Shopware AG die erste Version ihrer gleichnamigen Software. Das Unternehmen dazu war von den Brüdern Sebastian und Stefan Hamann in Schöppingen im Münsterland gegründet worden.

Norden, Süden – und ein Auswanderer

Im Jahr 2001 veröffentlicht das Münchener Gründer-Team von hybris die erste Version seiner Java-basierten E-Commerce-Plattform. Das Unternehmen war 1997 gegründet worden. 2013 wird hybris von SAP gekauft und ist in der Folge als SAP Commerce Cloud erhältlich. (Später gründen ehemalige Mitarbeiter und Gründer von hybris die Plattform Emporix.) 

Ebenfalls in der bayrischen Landeshauptstadt beginnt 2006 commercetools seine Laufbahn als System-Integrator für hybris und bietet zwischenzeitlich eine Cloud-Variante dieses Systems an. Ab 2013 geht commercetools mit seiner komplett neu entwickelten Headless-Plattform an den Markt.

Spryker wird 2014 in Hamburg gegründet. Die Software basiert technologisch auf einem Konzept, das seinerzeit auch beim deutschen Seriengründer Rocket Internet im Einsatz war. Ebenfalls aus Hamburg: Die Plattform Scayle Commerce Engine geht als Ausgründung des zum Otto-Konzern gehörenden Modehändlers ABOUT YOU an den Markt.

Last but not least: Der Koblenzer Tobias Lütke wandert nach Kanada aus, gründet Shopify 2006 und macht es zu einer der führenden E-Commerce-Plattformen weltweit.

Warum nur?

Ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Liste nicht vollständig ist. Aber auch so stellt sich natürlich die Frage: Warum? Warum ist man hierzulande so von Software fasziniert, die E-Commerce-Transaktionen abwickelt? Hat es vielleicht etwas damit zu tun, dass das Modellieren einer Datenbankstruktur für Viele einen ähnlichen Reiz hat wie das Entwickeln eines Verbrennungsmotors? Ist das Fernsehprogramm hier so schlecht, dass man sonntags lieber eine Gutschein-Logik programmiert anstatt den ZDF-Fernsehgarten anzuschauen? Liegt’s am Essen, das einem steinhart im Magen liegt und Programmierende in die richtige Stimmung versetzt, einen 10-schrittigen Checkout-Prozess zu entwickeln? Ich weiß es nicht.

Was ich aber weiß: falls es bei mir mit dem E-Commerce nicht mehr klappt, besorge ich einen Reisebus und biete Touren zu den wichtigsten Shopsystem-Orten des Landes an. Unterwegs wird Ortstypisches gereicht: eine Flasche Astra in Hamburg. Ein Tannenzäpfle in Freiburg. Und in Jena, der Heimatstadt von Intershop: natürlich eine Thüringer Bratwurst mit Senf!

Roman Zenner (ShopTechBlog)

Ich beschäftige mich seit mehr als 20 Jahren mit E-Commerce-Technologie und gehe hier im Blog der Frage nach, mit welchen Systemen Marken und Händler:innen ihr Online-Geschäft abbilden.

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