SaaS im E-Commerce: Wer knackt den ambitionierten Mittelstand?

In den vergangenen Wochen hatten wir uns vornehmlich mit Shopsystemen wie Magento, OXID und Shopware beschäftigt, bei denen es sich technologisch gesehen um On-Premise-Software handelt. Diese wird üblicherweise in Eigenverantwortung installiert und betrieben und bildet die Basis vieler ambitionierter Online-Händler. Im Gegensatz dazu stehen die unterschiedlichen SaaS-Anbieter, die den Betrieb und das Hosting sicherstellen. Die Frage: Kann auch die Magento-/OXID-/Shopware-Riege durch ein SaaS-Produkt abgedeckt werden?

SaaS vs. On-Premise

Seit einigen Jahren wird eine Diskussion bezüglich des technologischen Mehrwerts, die betriebswirtschaftlichen Vorteile und die damit einhergehende Risikobewertung von Software-as-a-Service-Modellen im E-Commerce geführt. Die Argumente und Gegenargumente sind dabei hinlänglich bekannt und sollen an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Verfechter von On-Premise-Ansätzen führen meist die Unabhängigkeit von den jeweils in Anspruch genommenen Cloud-Anbietern als triftiges Argument ins Feld und präferieren Lösungen, die kontrollierbar im eigenen Unternehmen betrieben und weiterentwickelt werden. Anhänger von Cloud-basierten Lösungen betonen hingegen den Vorteil, dass aufwändige Software-Updates entfallen, die Software out-of-the-box ohne langwierige und damit Investitionskapital-bindende Implementierungsprozesse funktioniert und damit kürzere time-to-market-Zeiten zu erreichen sind.

Einsteiger vs. Enterprise

Anbieter von SaaS-Shopsystemen haben derzeit vor allem zwei Kundensegmente im Blick. Im ersten Segment, das ich aus Ermangelung eines besseren Begriffs vorübergehend als Einsteigerklasse bezeichnen möchte, arbeiten Kunden, die mit wenig Aufwand bzw. wenig technischem Verständnis einen Onlineshop erstellen möchten. Da die Systeme bewusst anwenderfreundlich und selbsterklärend aufgebaut sind, sind üblicherweise keine Agenturleistungen erforderlich. Mit den oft zitierten „wenigen Mausklicks“ kann bei Systemen wie shopify, Bigcommerce, volusion, dem deutschen supr.com oder dem zuletzt in die Schlagzeilen gekommenen tictail ein Onlineshop erstellt und live geschaltet werden. Anpassungen am Frontend können in einem fest vorgegeben Rahmen verändert werden, die Checkout-Logik und die vorhandenen Schnittstellen sind jedoch nicht modifizierbar. Die mangelnde Anpassbarkeit kann auch dann zum Problem werden, wenn das Angebot zum Betrieb eines rechtssicheren Shops in Deutschland genutzt werden soll.

Am anderen Ende der Skala befindet sich das Enterprise-Segment, das derzeit hauptsächlich von Venda und Demandware besetzt wird. Venda wurde bereits 2001 gegründet und war damit der erste Anbieter von SaaS-Lösungen im E-Commerce. Technisch basiert die Plattform auf der Plattform, auf der der britische Anbieter boo.com seinerzeit seine Geschäfte abwickelte. Nach einem der spektakulärsten Crashes der Dotcom-Krise wurde die technische Basis aus dem Unternehmen herausgelöst und für dem Aufbau der Venda-Plattform verwendet. Demandware nahm drei Jahre später die Geschäfte auf, als Stephan Schambach, der Gründer von Intershop in den SaaS-Markt einstieg.

Venda ist vor allem mit Kunden wie Condé Nast und Universal Music im englischsprachigen Raum aktiv, hierzulande gibt es derzeit noch keine Referenzen. Bei den Kunden von Demandware handelt es sich zum größten Teil um international agierende Modelabels wie Hugo Boss, adidas oder S’Oliver. Das leuchtet vor allem dann ein, wenn man das Geschäftsmodell von Demandware unter die Lupe nimmt. Neben den initialen Kosten und den monatlichen Gebühren fällt noch eine prozentuale Umsatzbeteiligung an. Im hochmargigen Fashion-Segment ist das abbildbar, in Branchen wie der Elektronikbranche, in denen die Margen nur mit viel Glück zweistellig sind, kann sich solch ein Modell fast nicht rentieren.

Was in dieser Aufzählung fehlt ist das Segment, das man als mittleres Segment bezeichnen könnte und das klassischerweise von Magento, OXID und Shopware (MOS) abgedeckt wird. Zwar bietet Magento unter dem Namen Magento Go eine SaaS-Variante an, allerdings ist diese derzeit nicht auf dem hiesigen Markt einsetzbar und hat Gerüchten zufolge auch keine große Zukunft mehr innerhalb des eBay-Konzerns.

Zwei Fragen stellen sich an dieser Stelle: Zum einen muss geklärt werden, ob man dieses mittlere Segment qualitativ und quantitativ so beschreiben kann, dass eine Abgrenzung nach oben und nach unten möglich wird. Darauf aufbauend werden wir dann untersuchen, wie ein On-Demand-Angebot aussehen muss, das in diesem Segment nachhaltig erfolgreich sein möchte.

Die magische 10-Millionen-Euro-Schwelle

Beginnen wir also damit, uns dem mittleren Segment quantitativ zu nähern. Eine Recherche im Netz ergibt, dass eine wichtige Schwelle bei einem Jahresumsatz von 10 Millionen Euro zu liegen scheint. In dem lesenswerten Artikel The Future of Magento: The Half-Full Glass Theory (der uns aus anderen Gründen in diesem Blog noch beschäftigen wird) beispielsweise schreibt der langjährige Magento-Wegbegleiter Philippe Humeau: „for a site doing between 0,5 and 10 millions online, Magento is a no brainer“. In einem jüngst von der Agentur dot.Source veröffentlichten Whitepaper zur Shopsystemauswahl wird ebenfalls der Wert von 10 Millionen Jahresumsatz als Schwellenwert angesehen, ab dem aus einem Magento- eher ein Intershop-, Hybris- oder Demandware-Kunde wird. Last but not least hat Josef Willkommer von der Agentur Techdivision vor ca. drei Jahren einen längeren Artikel zum Verhältnis zwischen Demandware, Hybris und Magento veröffentlicht und zitiert ebenfalls die genannte Schwelle.

Hier stellt sich zum einen die Frage, ob sich diese Schwelle auch an echten Umsatz-Zahlen von Onlineshops in Deutschland ablesen lassen und ob es systemseitig tatsächlich eine mehr oder weniger klar erkennbare Grenze ziehen lässt. (Diesbezüglich arbeiten wir gerade an einem Daten-Pool, um belastbare Aussagen zum Technologie-Einsatz machen zu können.) Nach einigen Stichproben, die auf dem Datenmaterial der vom EHI herausgegebenen Studie E-Commerce-Markt Deutschland 2013 und auf eigenen Recherchen beruhen, scheint sich diese Schwelle zu bestätigen. Besonders bei einer Umsatzgröße von 8-12 Mio. gibt es eine Häufung von Magento-, OXID- aber auch xt:Commerce-Installationen. Es finden sich jedoch auch einige signifikante Ausreißer: Der Elektronik-Händler comtech beispielsweise, der 2012 einen Jahresumsatz > 100 Mio. erzielte, setzt im Hintergrund Shopware ein. Damit rangiert der Software-Hersteller aus Schöppingen in einem Bereich, der ansonsten ganz klar von Intershop, Hybris und ATG dominiert wird. Im Gegensatz dazu findet man auch Technologie aus dem Enterprise-Segment unterhalb der 10-Mio.-Schwelle, etwa Hybris bei Scooter Center (7,4 Mio.) und Intershop bei BabyOne (9,0 Mio.). Ohne die genauen Installationszahlen zu kennen sowie im Bewusstsein dessen, dass einige Ausreißer als Argumentationsgrundlage zu dünn sind und derartige Umsatzzahlen grundsätzlich mit Vorsicht zu genießen sind, bleibt doch die Erkenntnis: Die Umsatzzahl allein ist sicherlich kein sinnvolles Kriterium und kann allenfalls als ein möglicher Indikator verstanden werden.

Qualitative Abgrenzungskriterien

Wesentlich entscheidender ist hier die Frage nach der Komplexität der zugrundeliegenden Geschäftsmodelle und der dafür notwendigen technologischen Individualisierung. Gerade im mittleren Segment tummeln sich überdurchschnittlich viele Online-Pureplayer, die ihre Geschäftsmodelle auf einer flexiblen E-Commerce-Technologie aufbauen möchten und sich bei Shopify & Co. nicht richtig aufgehoben fühlen. Der Sprung zu Demandware, das diese Art von Individualisierung möglich machen würde, ohne die Vorteile einer SaaS-Software zu verlieren, ist in dieser Umsatzklasse in den meisten Fällen unrealistisch.

Es überrascht nicht – und hier schließt sich der Kreis zur Einleitung dieses Beitrags – dass im angesprochenen Segment vor allem MOS zum Einsatz kommt. Es handelt sich hierbei durchweg um arrivierte Software, um die herum sich in den letzten Jahren sowohl eine Community als auch ein Ökosystem von Dienstleistern angesiedelt hat. Kompetente Agenturen können die jeweilige Shop-Software aufgrund ihrer Quelloffenheit in alle möglichen Richtungen „verbiegen“ und beispielsweise aus OXID eShop ein Ticketsystem für Busfernreisen machen – wie im Fall des ADAC Postbus geschehen. Und auch Startups nutzen Software aus dem MOS-Segment, um schnell mit einem Onlineshop am Markt zu sein und diesen zu testen –  so geschehen unter anderem bei Zalando.

Die Eier-legende-Wollmilchsau-On-Demand

Wie muss nun ein SaaS-System aussehen, das die Anforderungen des mittleren Segments aufgreift und nachhaltig weiterentwickelt. Hier eine Wunschliste:

  • Anpassbarkeit über Templating hinaus: Mit Shopify & Co. lassen sich sehr ansehnliche Frontends gestalten. Was jedoch benötigt wird, ist die Modifikation der kompletten Businesslogik und eine beliebige Manipulierbarkeit von Datenobjekten. Beispiel: Fahrzeugsuche bei Autoteilemann.
  • Zielgruppengerechtes Lizenzmodell: Gibt ein Händler ein MOS-Projekt in Auftrag, bezahlt er seiner Agentur deren Aufwand für die Implementierung und evtl. für die Pfleges seines Systems – unabhängig vom erzielten Umsatz. Ein realistisches Lizenzmodell sollte daher nicht obligatorisch provisionsabhängig sein.
  • Niedrige Einstiegshürde: Die meisten Entwicklerkarrieren im MOS-Umfeld beginnen mit dem Download einer quelloffenen, kostenlosen Version der Software und dem darauf folgenden Ausprobieren und Weiterempfehlen. Diese Mechanik sollte sich die neue SaaS-Software zunutze machen und nicht das mögliche Wachstum durch Verschlüsselung und komplett kostenpflichtige Modelle im Keim ersticken.
  • Nachhaltiges Ertragsmodell für Agenturen: E-Commerce-Agenturen verdienen ihr Geld mit Implementierung, jedoch auch zu einem großen Teil mit Updates (s.o.) Das Ertragsmodell muss daher so attraktiv sein, dass sie trotzdem mit der neuen SaaS-Software updaten, die diese Wartungskosten nicht verursacht.
  • Internationale Ausrichtung: Ein wichtiger Grund für den Erfolg von Magento war sicherlich die internationale Ausrichtung. Gleich zu Beginn wurden Mehrsprachigkeit bzw. ein Multishop-Ansatz für internationalen Handel integriert. Als Folge bildete sich eine große weltweite Entwickler- und Anwender-Community, die beispielsweise eine Menge von Dritttmodulen hervorgebracht und Software-KnowHow aufgebaut hat, das allen Beteiligten bei der täglichen Arbeit mit dem System hilft. Ein neues SaaS-Produkt sollte sich diese Dynamik zunutze machen.

Spannend wird die Frage, ob diese Aufgaben von einer neuartigen SaaS-Software übernommen werden können, oder ob am Ende mehrere clevere miteinander verbundene SaaS-Einzelkomponenten das Rennen machen werden.

(Bild von Oleh Slobodeniuk)

Roman Zenner (ShopTechBlog)

Ich beschäftige mich seit mehr als 20 Jahren mit E-Commerce-Technologie und gehe hier im Blog der Frage nach, mit welchen Systemen Marken und Händler:innen ihr Online-Geschäft abbilden.

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